Urgermanisch
Eine kurze Einführung
Unter Urgermanisch, auch Protogermanisch genannt, versteht man wörtlich das ursprüngliche Germanische, also die erste bzw. früheste germanische Sprachstufe. Es ist diese Stufe, die sich weiterentwickelt und in die verschiedenen altgermanischen Sprachen verzweigt hat, wie z.B. in das Gotische, Altnordische, Althochdeutsche und Altenglische (Angelsächsische). Diese Verzweigung in Einzelsprachen erfolgte wahrscheinlich nicht direkt aus dem Urgermanischen. Stattdessen entstanden eine oder mehrere Zwischenstufen, von denen die erste eine Spaltung in Urnordwestgermanisch und Urostgermanisch erstellte (siehe Hill, 2013: 35-37). Das Urnordwestgermanische war u.a. ein Vorläufer des Althochdeutschen, Altenglischen und Altnordischen (über das Urnordische), während das Ostgermanische in ähnlicher Weise einen Vorläufer für das Gotische (und für weniger bekannte Sprachen wie das Burgundische und das Vandalische) bedeutete (siehe u.a. Speyer, 2007: 18). Unten gibt es anhand des Flexionsparadigmas für den nominalen a-Stamm (auf dieser Sprachstufe auch als o-Stamm wie im Proto-Indoeuropäischen bezeichnet) eine kleine Geschmacksprobe des Urgermanischen.
Aus verständlichen Gründen ist die Bestimmung von Zeit und Ort des Urgermanischen nicht ganz unproblematisch, da uns datierbare schriftliche Quellen fehlen und es sich bei der Sprachstufe daher um eine zeitlich zurückgesetzte Konstruktion handelt, die auf dem Gotischen und teilweise dem Urnordischen basiert. Das Letztere ist wiederum selbst hauptsächlich auf die Grundlage einer kleinen Anzahl von Runeninschriften und fundierter Regelmäßigkeiten in der Entwicklung bis zum Altnordischen rekonstruiert. Dennoch gibt es Grund zu der Annahme, dass das Urgermanische die Sprache ist, die in und um Dänemark ab ca. 500 v. Chr. verwendet wurde (siehe Ringe, 2008: 213). Allerdings wird bei der Entwicklung vom Indoeuropäischen zum Urgermanischen eine längere Übergangszeit, eine präprotogermanische Periode, angenommen (siehe u.a. Voyles, 1992). Diese erstreckt sich um weitere etwa 1000 bis 2000 Jahre zurück (siehe u.a. Ringe, 2008: 67; Lehmann, 2005-2007: 2; Stedje, 2001: 41; Homberger, 2003: 178; Hennings, 2003: 22). In diesem Sinne verändert sich die Sprache ständig, und die scharfen Trennlinien sind konzeptionelle Konstruktionen und systematisierende Vereinfachungen.
Um besser zu verstehen, wie eine historische Sprachstufe, die nicht durch schriftliche Quellen abgedeckt ist, tatsächlich rekonstruiert werden kann, ist es notwendig, sich ein wenig mit den drei zentralen Methoden der historischen Linguistik vertraut zu machen (siehe Lehmann, 2005-2007: 9-11). Diese werden üblicherweise bezeichnet als die vergleichende oder komparative Methode (wobei der Vergleich sprachlicher Elemente zwischen verschiedenen verwandten Altsprachen stattfindet) (siehe auch Clackson, 2007: 27-33), interne Rekonstruktion (wobei dieser Vergleich innerhalb einer einzelnen Sprache unternommen wird) und die Verwendung von (sprachlich fossilisierten und nicht mehr regelkonformen) Resten, d.h. abweichende Formen, die bis in die heutige einzelsprachliche Entwicklungsstufe überdauert haben. Obwohl sich das Urgermanische in Bezug auf die Quellen in einem Vakuum befindet, hat die Sprachstufe schließlich sowohl Vorgänger als auch Nachkommen, die in beiden Fällen schriftliche Zeugnisse hinterlassen haben, z.B. Sanskrit, Griechisch und Latein auf der einen Seite und Gotisch, Altnordisch und Altenglisch auf der anderen. Dies ermöglicht, Vermutungen darüber anzustellen, wie sich ein sprachliches Element inzwischen entwickelt hat und welche Gesetze dieser Entwicklung zugrunde liegen. Diese Denkweise war entscheidend für die Entstehung der historisch-vergleichenden Linguistik im 19. Jahrhundert und die Rekonstruktion einer proto-indoeuropäischen Muttersprache (vgl. z. B. Bussmann, 2002: 280-281; Clackson, 2007: 1-2) .
Zur Rekonstruktion des Urgermanischen wurde vor allem das Gotische als Grundlage herangezogen, die älteste nachgewiesene und nahezu vollständige germanische Sprache. Im Vergleich zu den anderen altgermanischen Tochtersprachen schien das Gotische wesentlich archaischer zu sein und daher nicht so weit von einem erwarteten urgermanischen Entwicklungsstadium entfernt zu sein. Dennoch hatte sich das Gotische deutlich stärker verändert als ein fast zeitgenössisches Urnordisches (siehe Harbert, 2007: 14-15). Eine mögliche Erklärung für diesen Unterschied kann im Schriftcode der altnordischen Runeninschriften gefunden werden. Diese sind von einer Starre geprägt, einer Art "Koiné", also einer gemeinsamen Sprache, die von den Runenritzern praktiziert und im Laufe der Jahrhunderte an ihre Nachfolger weitergegeben wurde (siehe Krause, 1971: 15). Somit stellten die wenigen urnordischen Überlieferungen ein dankbares Korrektiv bei der Rekonstruktion des Urgermanischen dar, wenn auch die älteste Runensprache vom Ende des 2. Jahrhunderts n. Chr. bis zum Ende des 6. Jahrhunderts allein nicht unbedingt ein wahres Bild davon gibt, wie sich das Urnordische in dieser Zeit entwickelte. Ab dem Ende des 6. Jahrhunderts kam es allmählich zu einer größeren sprachlichen (und auch thematischen) Vielfalt und schließlich zu einem Übergang in die klassischen altnordischen Formen (siehe Krause, 1971: 15-16).
Der Übergang vom Proto-Indogermanischen (PIE) zum Urgermanischen wird vor allem durch die sogenannte "erste (germanische) Lautverschiebung" charakterisiert, nach dem deutschen Linguisten Jacob Grimm auch "Grimm'sches Gesetz" (Grimm's law) genannt. Diese Lautverschiebung beinhaltete eine Umbildung der meisten Konsonanten in PIE und ist heute noch im Vergleich zu anderen indoeuropäischen Sprachen ein typisches Merkmal der germanischen Sprachen. Außerdem kam es beim Übergang zum Urgermanischen auch zu einem allgemeinen Akzentwandel. Im Gegensatz zur variablen (oder beweglichen) Akzentverteilung im PIE verfestigte sich die Betonung auf die erste Silbe eines Wortes (normalerweise die Wurzelsilbe). Für die weitere Entwicklung ab der urgermanischen Sprachstufe bis hin zu den germanischen Tochtersprachen war diese Akzentverlagerung ein ganz entscheidender Grund für die großen morphologischen Veränderungen, die eintraten (siehe u.a. Stedje, 2001: 41 / 44-46; von Polenz, 1978: 15-18). So entstanden vor allem unbetonte Auslautvokale, die allmählich quantitativ verändert (gekürzt) wurden (Morareduktion), bis sie weitgehend wegfielen (Endsilbenschwund). Darüber hinaus verursachten sie in vielen Fällen durch einen Umlautvorgang und im Altnordischen auch durch eine so genannte Brechung (Diphthongierung) eine qualitative Veränderung des betonten Wurzelvokals (siehe u.a. van Nahl, 2014; Speyer, 2007: 48-55). Im Gotischen sind fast ausschließlich die quantitativen Änderungen der Auslautvokale und demzufolge der Endsilbenschwund zu sehen, während das Altnordische ein gutes Beispiel für sowohl quantitative als auch qualitative Änderungen darstellt.